Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Unter Wasser
#1
Im Meer vor der Küste Mytilenes zog ein riesiger Tigerhai seine Bahn. Dunkle, starre Augen blickten durch das Blau des Wassers. Der breite, stumpfnasige Kopf pendelte in der Bewegung des Schwimmens langsam hin und her. Der Hai hatte die Kiefer leicht geöffnet, um Wasser aufzunehmen und durch die Kiemen strömen zu lassen. Hier unten, wo das Sonnenlicht schon längst so weit aus dem Wasser gefiltert war, dass nur noch trübes Blau hereindrang, war der graue Hai für menschliche Augen fast unsichtbar und nur als schattenhafter Schemen zu erkennen. Der Hai selbst jedoch hatte Sinne, die ihn hier unten mehr erkennen liessen, als einen Menschen am hellen Tage. Gerüche trieben mit dem Wasser an ihn heran, Geschmack von Partikeln, deren Quelle hunderte oder tausende Meter entfernt sein konnte. Sein wichtigstes Sinnesorgan in dieser fast lichtlosen Tiefe war jedoch seine Haut. In dieser versteckt lagen Zellen, mit denen er winzigste elektrische Schwingungen wahrnehmen konnte. Die Bewegung von Fischen, deren Muskeln durch elektrische Impulse der Nerven zusammenzuckten. Die winzigen elektrischen Felder die dort entstanden, wo verschiedenwarme Wasserströmungen aufeinandertrafen. Selbst das Denken eines Menschen hätte der Hai erkennen können.
Vor dem Hai breitete sich die Unterwasserwelt wie auf einer Landkarte aus. Deutlich nahm er die Schwingungen wahr, die der Herzschlag und das ruhige Schwingen der Muskeln einer Schule Delphine in einiger Entfernung zu ihm schickte. Der Hai war nicht wirklich hungrig und Delphine viel zu schnell, um dem Geschehen dort viel Aufmerksamkeit zu widmen. Das änderte sich aprupt, als die elektromagnetischen Impulse der Delphine durch eine Dissonanz gestört wurden. Plötzliche, unregelmäßige und starke Amplituden verhießen unter den Delphinen ein Tier, das sich, vielleicht verwundet, unter Schmerzen oder in Krämpfen wand. Der Hai drehte den Kopf in die Richtung der Signale und mit langsamen und kräftigen Schwanzschlägen steuerte er auf die Quelle seines Interesses zu.
Nach wenigen Minuten hatte der Hai die Delphine erreicht. Acht Tiere waren es, von denen sieben versuchten, den um einiges größeren Tigerhai von einem achten Tier in ihrer Mitte abzu­lenken. Langsam umkreiste der Hai die Delphine. Er hatte Zeit. Was immer sich tat, er würde abwarten können. Verletzt schien der Delphin im Zentrum jedenfalls nicht zu sein.
Fast eine halbe Stunde kreiste der Hai nun schon. Inzwischen hatten sich einige Weißspitzenhaie eingefunden, zeigten aber vor dem gut drei Meter längeren Tigerhai Respekt und blieben auf Abstand. Dann brach eine Wolke rot-schmierigen Säugerblutes aus dem Delphin hervor und verteilte sich im Wasser. Sofort kam Bewegung in die Weißspitzenhaie. Sie begannen engere Kreise um die Delphine zu ziehen, was deren Wächter veranlasste, die Weißspitzen zu attackieren und ihnen ihre knöchernen Nasen in die Seiten zu rammen.
Dem Tigerhai kam das nur recht. Die Weißspitzenhaie lenkten die Aufmerksamkeit der Delphine auf sich, während er selbst sich etwas entfernte und tiefer sinken ließ. Er schwamm unter den sich umlauernden und gegenseitig angreifenden Haien und Delphinen hindurch, bis er fast direkt unter dem Delphinweibchen in der Mitte dieses Tanzes stand. Die Brustflossen angewinkelt und alle Kraft in den Schlag der Schwanzflosse legend, schoß der Tigerhai fast senkrecht nach oben.
Das Delphinweibchen trieb erschöpft an der Oberfläche, die Schwanzflosse seines Jungen und dessen Hinterleib bereits aus sich herausgepresst. Die Wucht des Aufpralls des tonnenschweren Hais hob das Delphinweibchen aus dem Wasser. Dutzende gesägter Zähne und die Kraft einer Baggerschaufel fraßen sich in den Leib des Delphins, trennten ein kübelgroßes Stück heraus und zerteilten das noch ungeborene Junge. Während der Delphin wild zuckend verendete, schwamm der Hai mit einigen Schwanzschlägen abseits und schlang den Fleischbrocken hinunter. Die Delphine hatten inzwischen das Weite gesucht und die Weißspitzenhaie begannen, den nunmehr leblosen Körper des Delphinweibchens zu zerreißen. Der Tigerhai dreht erneut auf den Kadaver zu, um das nächste Stück aus ihm herauszutrennen. Als der Hai den nächsten Klumpen Fleisch aus dem Delphin heraussägte, fuhr ein heftiger Krampf durch seinen Hinterleib. Er schlug mit der Schwanzflosse, schüttelte sich unter Schmerzen. Dann spie er das noch nicht ganz verschlunge Delphinfleisch wieder aus und drehte ab in Richtung Küste.

---

Edit: Dieser Text wurde in nahezu unveränderter Form der Kurzgeschichte "Te vahine moana" von Lilian Day entnommen.
Zitieren




Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste